Noch lange nach ihrem Tod war sie omnipräsent. Dann fiel die Leinwandikone im Zeitalter von #MeToo und Diversity aus der Mode.
Sarah Pines
Jeder Geburts- oder Todestag von Marilyn Monroe wird von denselben Gedanken begleitet: Wie hätte Marilyn heute ausgesehen? Hätte sie Kinder gehabt, weiter geschauspielert, wieder geheiratet, sich die Haare umgefärbt, ihr Make-up abgelegt? Oder hätte sie in einer abgedunkelten Villa auf dem Sunset Boulevard als für immer unter einer Kosmetikschicht mumifizierter Abklatsch des einst schönen Selbst dahinvegetiert?
Marilyn Monroe könnte mit 96 Jahren jedenfalls höchstens noch knapp gelebt haben. Vor sechzig Jahren starb sie, am 4.August 1962, allein im Bett auf zerwühlten Laken in ihrem flachen Hazienda-Style-Bungalow in Brentwood, Los Angeles.
Bis vor ein paar Jahren war Marilyn als Ikone omnipräsent, auf Postern, in Geschäftsauslagen, in New Yorker Souvenirshops, im Fernsehen, in Zeitungsartikeln. Stars wie Madonna, Lindsey Lohan, Cindy Crawford, Kim Kardashian, Beyoncé und Scarlett Johansson nahmen Monroes ironischen Satz «It’s better to be absolutely ridiculous than absolutely boring» – besser eine Lachnummer als eine Langweilerin – zu ernst und legten Monroe-Outfits inklusive Perücke an – eine Riege der Peinlichkeit.
Als Billie Eilish es auf der Met-Gala 2021 noch einmal versuchte, regten sich erste kritische Stimmen, doch ging es weniger um die angemessene Ästhetik als um Politik. Von zu viel Weisssein, gar ästhetisierter white supremacy im Zeitalter von Diversität und Inklusion war die Rede. Marilyns frauliche Fünfziger-Jahre-Unsicherheit, ihr Bitte-lieb-mich-Lächeln, ihre «Weissheit», Passivität und Gender-unfluide Weiblichkeit sind im Zeitalter von #MeToo und Diversity aus der Mode gekommen.
Marilyn liest «Ulysses»
«My popularity seemed almost entirely a masculine phenomenon», schrieb Marilyn in ihrer Autobiografie. Marilyn: von Ehefrauen gehasst, von Männern vergöttert. Zeit ihres Lebens interessierten sich fast ausschliesslich männliche Journalisten für sie, auch die Elogen nach ihrem Tod wurden von Journalisten verfasst. Journalistinnen wollten nicht, durften nicht, waren wahrscheinlich zu wenig voyeuristisch, zu einfühlsam.
Es waren vor allem Männer, die witzelnd abwehrend den Kopf schüttelten, wenn Monroe in Interviews – für ihre Zeit erstaunlich freimütig – ihren Wunsch nach mehr Bildung äusserte, erwähnte, sie lese viel und dichte auch. Sie klagte an, als Kind sexuell missbraucht worden zu sein, sprach von vergeblichen Versuchen, schwanger zu werden. Und Frauen, die sich für feministisch hielten, machten mit und shamten das dem Männerblick unterworfene Pin-up.
Es gibt viele Bilder, die Marilyn beim Lesen zeigen, meist in Nachthemd, Badeanzug oder Freizeitkleidung. Das von Eve Arnold 1955 aufgenommene Bild der «Ulysses» lesenden Marilyn ist eines der ambivalentesten. Anders als bei herkömmlicher Autorenfotografie – die weise dreinschauende Gertrude Stein beim Briefeschreiben, Jean-Paul Sartre mit aufgestütztem Ellbogen, faltig in die Kamera schauend – entsteht beim Betrachten Zweifel: Marilyn, das Sexsymbol, mehr körperlich als geistig unterwegs, beim Lesen des wohl grössten Literaturklassikers der Moderne: künstliche Pose und Oberflächlichkeit oder echter Schnappschuss und echte Tiefe?
Das Dummchen mit Chinchilla-Stola aus «Some Like It Hot» war immer das erwartbare Bild, zu den berührendsten hingegen gehören die «Last Sitting»-Aufnahmen des Fotografen Bert Stern. Dennoch ist man – vorurteilsbeladen – zunächst versucht, beim Aufschlagen des neuen, grossen und lichten Hochglanzbandes des Taschen-Verlags, der Sterns Fotos in einen Dialog mit Texten von Norman Mailer treten lässt, in ein anderes Klischee zu fallen: zwei geifernde Männer, die sich in einem anzüglichen Buch an einer nackten, zerrütteten Frau mit bereits teigigem Gesicht abarbeiten. Kein Hefner-Bunny avant la lettre mehr, sondern eine geopferte Frau an der Grenze zur Bräsigkeit.
«Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe», mit dem Klang eines unguten Dreiers vereint sich Mailers Originaltext zum Leben der Schauspielerin mit Sterns Fotografien aus dem «Last Sitting», einem viertägigen «Vogue»-Shooting im Hotel Bel-Air sechs Wochen vor Monroes Tod. «Nie zuvor hatte sie einen Fotografen so nah an sich herangelassen», schreibt Taschen. «Last Sitting» gilt als die intimste Fotoserie über Monroe, was sachte verwundert, zeigt doch das «Pool Sitting» von Milton H.Greene aus dem Jahr 1955 viel intimere Bilder einer ungeschminkten Marilyn.
Dragqueen im Monroe-Kostüm
Norman Mailer, Journalist und Pulitzerpreisgewinner, schrieb bereits 1973 den Essay «Marilyn: A Biography». Er hatte drei schon existierende Biografien gelesen, Monroes Filme und Fotografien angeschaut und «spekuliert», wie er freimütig zugab. Monroes letzter Ehemann, Arthur Miller, mochte den Text nicht, den Autor noch weniger. Mailer habe sich wie eine Dragqueen in ein imaginatives Monroe-Kostüm geworfen und «seine eigenen Hollywood-Phantasien von Ruhm und grenzenlosem Sex» ausgelebt, schrieb Miller in «Timebends» (1987).
Der Band ist wunderschön aufgemacht. Sommerfarben. Ananasgelb und Orange. Marilyns rote Filzstiftkreuze, mit denen sie die Bilder durchstrich, die sie nicht mochte, gleichen Lippenstiftspuren an Spiegeln. Und immerfort Marilyn. Marilyn hinter einem Gazetuch, ohne Kleider, mit Kleidern, das Gesicht ganz nah, der Flaum an ihren Wangen ist sichtbar, die feinen Linien an den Augen. Die Sommersprossen aber, die sie überall hatte, im Gesicht, am Décolleté, an den Armen, sind weiterhin überschminkt. Marilyns Gesicht, wie wir es kennen – gibt es eigentlich ein schöneres? –, gemahnt an eine Totenmaske; bald wird sie sterben.
Monroes Make-up-Artist Whitey Snyder begleitete ihre ganze Karriere, auch die letzte Sitzung mit Stern. Er schminkte sie für ihre Beerdigung, wie er es versprochen hatte, entwarf bereits in den frühen fünfziger Jahren für die Filme «Niagara» und «Gentlemen Prefer Blondes» den typischen «Marilyn-Look»: den Eyeliner, den bis hinter die Lippenkonturen geschminkten Mund, die makellose und sommersprossenlos geschminkte Haut. Das schwere Make-up schränkte Marilyns Mimik ein, begünstigte das Close-up, Gesicht und Körper irgendwo zwischen Stille und Bewegung, die Pin-up-Pose, Monroes maximale Fotogenität.
Marilyn als bunte Wolke
Bert Sterns Bilder zeigen die Reste dieses starren Pin-up-Gesichtes, dessen obere Kruste bereits in Marilyns letztem Film, «The Misfits», aufgebrochen war. Hier sollte Marilyn als «Roslyn» der Übergang von reinem «Anschauungsmaterial» zum sozialkritischen Schauspiel gelingen. Ihr Gesicht wirkt weniger geschminkt, die Haare weniger toupiert, sie ist irgendwo auf einem Rodeo in der Wüste von Nevada. Über «Roslyn» schrieb Norman Mailer, sie scheine «keine klare Kontur auf der Leinwand» zu haben, sei weniger eine Frau als «eine Wolke schwebender Sinne in der Form Marilyn Monroes».
Die Marilyn kurz vor dem Tod gleicht de Koonings Porträt aus dem Jahr 1954 (Marilyn als vage bunte Wolke aus Farben und Strichen) oder Cecil Beatons Fotografie aus dem Jahr 1956: Marilyn sitzt auf einem Rattanstuhl und hält die Unterarme vor ihren Mund, ihren ikonischsten, maskenhaftesten Körperteil, als wolle sie ihn verstecken, etwas anderes betonen. Nur was?
Marilyn ist da, wo wir nicht sind. Irgendwo zwischen den ätherischen, traurigen und körperfokussierten Bildern von Stern und den Worten von Mailer, für den die Angebetete nicht weniger als die Idee der Seele verkörpert: «One might literally have to invent the idea of a soul in ordert to approach her.» Körper und Seele, Amor und Psyche, Monroe ist das geliebte Etwas, das zerfällt, verschwindet, schaut man genauer hin, sich sogleich wieder zusammenfügt, immer neu, immer anders, immer gleich.
Sie ruht neben Hugh Hefner
Das Grab von Marilyn Monroe befindet sich auf dem Westwood Village Memorial Cemetery. Es ist ein kleiner Friedhof, wie weggeduckt zwischen dunklen Achtziger-Jahre-Hochhäusern des Wilshire Boulevard, einem braunen Parkhaus und flach-dörflichen Bungalows. Nur ein paar Stars liegen hier, die meisten davon halb vergessen, Truman Capote, Natalie Wood, Dean Martin. Es gibt kaum Besucher, am Wegrand und vor der Kapelle halten manchmal ein paar dunkle Wagen in Vorbereitung einer Beerdigung. Man läuft über teppichdickes, kalifornisches Gras, es gibt ein paar Palmen und rote Blumen auf Mauern.
Man würde erwarten, dass Marilyns Grab besonders pompös ist, Mausoleen mit Säulen, Engeln und Goldflimmer auf weissem Marmor. Stattdessen liegt Monroe neben dem «Playboy»-Herausgeber Hugh Hefner in einem schlichten, quadratischen Wandgrab. Sie war sein erstes Pin-up gewesen, er hatte absichtlich die Grabstelle neben ihr gekauft. Auf Hefners Grabplatte steht kein Name, der Stein ist bedeckt mit Lippenstift-Kussmündern, auf der von Monroe steht nur ihr Name, an beiden Platten hängen Phiolen mit Blumen darin.
Norman Mailer. Bert Stern. Marilyn Monroe. Taschen-Verlag, Köln 2022. 276S., Fr. 99.-.
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NZZ-Redaktion